„Magnolia. Begegnungen
in der Vergangenheit und heute“
– Agata Kochs Liebeserklärung an ihre Kindheit in Milanów
und an Orte, die verbinden.
Brygida Helbig
Dieses autobiografische Buch verlangt geradezu eine genussvolle und mehrfache Lektüre, die jedes Mal neue Entdeckungen mit sich bringen wird. Es verbindet farbenfrohe und sinnliche, nostalgische Erinnerungen mit faszinierenden historischen Nachforschungen und Reflexionen über die Gegenwart. Die Erzählung über den persönlichen Lebensweg der Autorin wird von der Spurensuche zur Geschichte eines eng mit ihrem Geburtsort verbunden polnischen Adelsgeschlechts begleitet, ein forschender Ansatz von einer fast metaphysischen Perspektive unterminiert. Poetische, metaphorische Sprache,Märchenhaftigkeit und Emotionalität wechseln mit dem Stil eines populärwissenschaftlichen Essays. Das Buch ist reich bebildert mit Fotos aus dem privaten Archiv der Autorin, und ein Anhang mit ihrer Poesie rundet das Ganze ab.
„Magnolia“, das „von Herzen“ geschriebene und sorgfältig gestaltete Erinnerungsbuch der Berliner Dichterin, Fotografin und Germanistin Agata Koch, ist vor allem ein Ausdruck der Liebe zu ihrem Geburtsort – Milanów in Podlachien(Nordwest-Polen). Dort verbrachte Agata die ersten fünf Jahre ihres Lebens – eine glückliche Kindheit, wie sie es schildert. Aus dieser Zeit schöpfe sie bis heute Energie, um auch an anderen Orten kreative Räume für sich und für andere zu erschaffen. Einer dieser Orte ist das Sprachcafé Polnisch in Berlin, das sie 2012 ins Leben rief und dessen unermüdliche Koordinatorin und gute Seele sie bis heute ist. Das Café zieht kreative Menschen an, die Begegnungen und die Nähe anderer Menschen suchen und sich gegenseitig in ihrer Entwicklung unterstützen, um wenigstens ein Stück weit die Utopie einer geborgenen Welt, in der für jeden Platz ist, Realität werden zu lassen.
„Magnolia“ ist ein Buch über die Sehnsucht nach dem Geburtsort, dem Ursprung, aber auch über das Bedürfnis, eine Heimat zu haben. Es ist ein Buch darüber, wie wir uns in einer unberechenbaren Welt heimisch fühlen können, auch angesichts der Vertreibungen und Umsiedlungen der Vergangenheit (von denen auch die Vorfahren von Agata Koch betroffen waren) und der Herausforderungen der heutigen Welt, wie Migrationen, Kriege und Flucht. Je stärker die Globalisierung der Welt voranschreitet, desto wichtiger werden für uns, das legt die Autorin nahe, lokale Gemeinschaften und ein (sei es ein symbolisches) Zuhause, das uns ein Gefühl von relativer Sicherheit und Zugehörigkeit vermitteln würde – eine Voraussetzung für unsere Handlungsfähigkeit jenseits der Opferrolle. Aus meiner Sicht vermittelt „Magnolia“ genau diese Botschaft – ein Buch, das mich mal zum Lachen bringt, mal wieder tief berührt, umso mehr, als ich die Autorin seit vielen Jahren kenne und weiß, dass das, worüber sie schreibt, nichtnur Worte sind, sondern ihr Alltag, ihre tägliche Anstrengung, dieses individuelle und gesellschaftliche Identitätsprojekt auch wirklich umzusetzen.
„Magnolia“ – ein zwischen Nostalgie und Utopie angesiedeltes Buch über eine idyllische Kindheit eines empfindsamen Mädchens, einer „kleinen Prinzessin“, an einem außergewöhnlichen Ort, der Natur und Kultur vereint, umgeben von wohlwollenden Menschen (aber auch Wichtelmännchen), einem Ort, an dem die einzige Gefahr – schnell gebannt – ein Truthahn ist, der das Mädchen über den Hof jagt. Diese Kindheit wird zu einer Art privater Mythologie, auf die sich die Autorin ihr Leben lang beziehen wird.
Was macht diese „paradiesische“ Kindheit so besonders?
Vor allem der Ort – Milanów, wo sich bis 1944 ein Gutshof außergewöhnlicher, engagierter Menschen, Sozialreformer und Patrioten aus einem der bedeutendsten polnischen Adelsgeschlechter befand, „deren Vertreter
viele hohe Ämter und Würden in der Ersten Republik sowie im Königreich Polen und in der Zweiten Republik Polen innehatten“. Bis 1930 gehörte das Anwesen in Milanów, mit einem imposanten Parkkomplex und einer Orangerie, dem Fürsten Włodzimierz Czetwerczyński, einem Teilnehmer des Januaraufstands, und seiner Frau Maria aus dem Hause Żółtowski. Später wurde es von einer ihrer Töchter, der charismatischen Maria Tarnowska, übernommen, die es 1944 aufgrund der politischen Umwälzungen verlor.
In der Volksrepublik Polen wurde im verstaatlichten Gutshaus eine Schule untergebracht, in der Agata Kochs Mutter als Lehrerin arbeitete. Die Lehrer und Mitarbeiter der Schule erhielten Wohnungen in den ehemaligen Nebengebäuden (Ställen, Wagenhallen), und dort, in dieser abgeschlossenen, kleinen Welt, die noch von der Atmosphäre des Adelsguts durchdrungen war, wurde Agata geboren. Die Schönheit, die sie in den ersten Lebensjahren umgab, verlieh ihr, wie sie andeutet, eine Kraft, die vermutlich ausreichen wird, um ein ganzes Leben lang Hoffnung und Handlungskraft nicht zu verlieren. „Ich liebte es, spazieren zu gehen. Heute denke ich, dass es für mich ein Ausdruck von Freiheit und grenzenlosem Vertrauen in die Wege war, die mich später durchs Leben führten.“
Das Symbol dieser in einer Mehrgenerationenfamilie, in einer Schule voller wohlwollender Menschen und inmitten einer bezaubernden Natur verbrachten, idealisiert erscheinenden Kindheit ist die Magnolie – die tatsächlich im Park von Milanów wuchs. Dieser edle Baum wird in unserer Kultur mit zarter Schönheit, Adelund Empfindsamkeit assoziiert. Die Autorin pflanzte ihn später auch vor ihrem Haus in Berlin, unter anderem, um das Gefühl der Kontinuität ihrer eigenen Biographie zu stärken.
Die Magnolie ist eine Königin unter den Bäumen, man könnte sagen – eine Gräfin. Auch Maria Tarnowska, die auf vielen Seiten des Buches erinnert wird, war eine. Und genauso wie mit der Magnolie identifiziert sich die Autorin auch mit ihr.
Wer war Maria Tarnowska, die letzte Besitzerin des Guts in Milanów vor der Enteignung?
Sie war Diplomatin und Ehefrau eines Diplomaten, eine Sozialreformerin, die die Familientradition des patriotischen und sozialen Engagements fortsetzte. Während des Zweiten Weltkriegs war sie Sanitäterin und Krankenschwester. Sie nahm an den Kapitulationsgesprächen des Warschauer Aufstands teil, wurde inhaftiert und litt unter Repressionen, lebte dann viele Jahre lang mit ihrem Mann im Ausland.
Agata Koch ist es wichtig zu betonen, dass sie nur ein halbes Jahr nach dem Tod der 85-jährigen Gräfin geboren wurde. Vielleicht gingen sie durch dieselben Alleen, blickten auf dieselben Bäume, denn sie lebten ja in der gleichen Umgebung. Daher fühle sie eine fast mystische Verbindung zu Maria Tarnowska. Gleichzeitig wird die Gräfin für sie zu einem ethischen Vorbild, einem biographischen Bezugspunkt, einem Bestandteil ihrer privaten Mythologie. Eine große Entdeckung, die diese spirituelle Verwandtschaft zu bestätigen scheint, sind für Agata Koch Tarnowskas Memoiren „Die Zukunft wird es zeigen“ (Przyszłość pokaże, 2012), in denen sie u.a. ihre Kindheit und Jugend in Milanów beschreibt. Eindrücke von Lektüren solcher scheinbar zufällig entdeckten Bücher, aber auch Berichte über Begegnungen mit Menschen, die mit Milanów verbunden sind, verleihen dem Buch einen zusätzlichen Reiz.
Doch „Magnolia“ handelt nicht nur von Milanów. A. Koch greift auch, fragmentarisch, auf andere Stationen ihres Lebens zurück: Sie erinnert an ihre Schulzeit in Lublin, an ihr Studium in Leipzig, wohin sie 1983 ging, an Berlin, wohin sie nach dem Studium zog, den Fall der Mauer, die Wende, die Gründung einer Familie, den Hausbau… Und natürlich die Gründung des Sprachcafés, dessen Besucher die Gelegenheit haben, ihre eigene Geschichte zu erzählen oder sogar zu schreiben – zum Beispiel in den Schreibwerkstätten, an denen auch die Autorin selbst teilnahm.
Lohnt es sich, autobiographisch zu schreiben?
Ich glaube schon, denn das impliziert ein bewussteres Leben, das Verarbeiten des Erlebten und das Gestalten des Zukünftigen. Es muss nicht unbedingt eine getreue und realistische Wiedergabe der Wirklichkeit in all ihren Facetten sein. Wir dürfen subjektiv sein, unser Gedächtnis darf selektiv sein. A. Koch unterzieht ihre Biografie, insbesondere ihre Kindheit, einer Mythisierung und Romantisierung (mit dieser Schreibstrategie beschäftigte sich eingehend u.a. der Berliner Buchautor L. Werner).
Diese Strategie ist literarisch sehr attraktiv, hat aber auch eine starke psychologische und therapeutische Dimension – sie dient dazu, scheinbar zufälligen Ereignissen und unseren Lebens-Etappen einen Sinn zu verleihen. Dabei geht auch darum, bewusst nach Verbindungen und Botschaften zu suchen, zu fragen, wer wir sind und was unsere Aufgabe (vielleicht gar Mission?) ist, um damit unser Leben zu vertiefen. Natürlich sollte man sich dabei vor oberflächlichem Sentimentalismus hüten, doch es gelingt der Autorin, dieses Risiko weitgehend zu meiden.
„Magnolia“ – ein Buch, das aus der Vergangenheit schöpft, Hoffnung und Perspektive für die Zukunft gibt und Leserinnen und Leser inspiriert, ihren eigenen Lebensweg kreativ und phantasievoll zu betrachten und Schätze zu bergen, die er bereithält.
Tłumaczenie: Brygida Helbig
